Wie man die "Sinn-Mangel-Erkrankung" heilt

Wer bin ich? Wozu lebe ich? Wohin will ich? Diesen tief greifenden Fragen stellte sich kürzlich die Psychotherapeutin und Autorin Irmtraud Tarr bei einem Vortrag für das Katholische Bildungswerk Salzburg.

Gerade in Krisenzeiten stellen sich Menschen vermehrt die Frage nach dem Sinn des Lebens. Der Unterschied zu früheren Generationen ist, dass wir heute selbst Sinnschöpfer sind. Wir haben zwar mehr Freiheit, wir leiden aber an einer "Sinn-Mangel-Erkrankung", was neurobiologisch belegt ist. Was früher als Melancholie bezeichnet wurde, kennen wir heute als Depression, die immer mit Sinn zu tun hat und einem bestimmten Muster folgt. Irmtraud Tarr meint in diesem Zusammenhang nicht die klinische Depression, sondern die "normale Depression", die fast jeder Mensch mehr oder weniger kennt. Gemeint ist damit eine Lebensweise, wo man das Leben aushält und sich zusammenreißt.

"Der Grund warum wir nach dem Sinn fragen liegt in unserer Endlichkeit", sagt die Psychotherapeutin. "So geht es in einer guten Therapie letztlich immer um den Sinn." Man sollte aber nicht fragen "Was ist der Sinn?", sondern "Was ist mein persönlicher Sinn?" Denn der Sinn ist nichts Abstraktes, sondern das Leben selbst, so kann der Sinn zum Beispiel darin liegen, wenn einem das Schöne im Leben begegnet. Man kommt dem Sinn auf jeden Fall näher, wenn man sich auf seine Stärken konzentriert.

Allerdings ändert sich der Sinn im Laufe des Lebens. So wie sich auch auch die eigene Sprache über die Jahre verändert. Ein interessanter Aspekt dabei ist, dass Sprache und Sinn eng miteinander verbunden sind. Wer sich selbst zuhört, wie er spricht, macht einen Schritt zur Selbsterkenntnis, denn die Selbsterkenntnis geht über die Sprache. "Wenn die Sprache undifferenziert und eng ist, ist auch das Leben undifferenziert und eng", betont Tarr. "Je differenzierter die Sprache, je differenzierter der Sinn." Es kann demnach helfen, wenn man sich vergewissert, wie man eigentlich redet, ob beispielsweise immer nur die gleichen Wortfetzen wiederholt werden. "Sinn entsteht, wenn ich mich um meine Sprache kümmere.

"Was ist nun die Heilung der "normalen Depression"? Dazu meint Tarr: "Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, wir leisten aber einander keine Gesellschaft mehr! Es geht ganz einfach um gesunden Menschenverstand. Wir alle brauchen Beachtung, Zuwendung und Resonanz. Diese Dinge sind notwendige Grundbedürfnisse." Es liegt also in unserer Hand, einander zu Sinnstiftern zu werden und zu verstehen, dass wir diese Dinge zum Leben brauchen. Für Irmtraud Tarr ist der wichtigste Schlüssel zur Sinnfindung die Dankbarkeit, was bedeutet, nicht alles einfach so hinzunehmen, sondern ein Wachsein für die guten Momente zu entwickeln. Denn im Gegensatz zu unseren Vorfahren haben wir so viele Möglichkeiten Sinn zu stiften und Sinn zu finden, dass man am Ende sagen kann: "Es war gut."


C.H., Sept. 2011

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Dr. Irmtraud Tarr, Psychotherapeutin, Musiktherapeutin, wissenschaftliche Leiterin der Musiktherapieausbildung an der Donau-Universität Krems