Von gelingenden Beziehungen, Lernen in Außen-Räumen und ermutigender Selbstliebe

Veränderungen für sich und andere Menschen positiv gestalten

Salzburg. Am letzten Tag der 72. Internationalen Pädagogischen Werktagung in Salzburg setzte sich der interdisziplinäre Blick auf das Thema „Veränderungen“ fort, der pädagogische Schwerpunkt mit psychologischen, philosophischen und spirituellen Aspekten ergänzt. Die Tagung wurde mit einem Plädoyer für ein gesundes menschliches Beziehungsgefüge, aber auch für ein offen gestaltetes Erleben und ein wohlwollendes Bild von sich selbst abgerundet. Der Heidelberger Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs, die Erziehungswissenschaftlerin Iris Nentwig-Gesemann und der Schweizer Theologe Pierre Stutz sorgten für einen positiv aufgenommenen Schlusspunkt. Das Publikum zeigte ich von der Themenvielfalt, den pädagogischen Anstößen sowie den ermutigenden Worten am Abschlusstag der Tagung begeistert.

 

Lernen in Beziehungen: Soziale und familiäre Weltaneignung als entwicklungsbiologisches Fundament

„Der Mensch lernt im Wesentlichen in Beziehungen“, betonte Thomas Fuchs. Der Psychiater und Philosoph verwies auf diese heute beinahe als selbstverständlich vorausgesetzte Einsicht, mahnte zugleich aber auch an, dass diese Perspektive nicht immer geteilt wurde: Der Prozess des Lernens und der menschlichen Welt- und Wissensaneignung wurde über Jahrhunderte hinweg als eine theoretische Einbahnstraße interpretiert – der lernende Mensch kam als ein passiver Rezipient in den Blick, das aktive Moment des persönlichen Bildungsweges wurde aber über weite Strecken übersehen, ausgeklammert oder bewusst ignoriert, so Fuchs.

Heute seien die interaktiven Elemente des menschlichen Lernprozesses aus Forschung, Praxis, Ansätzen und Methoden nicht mehr wegzudenken. „Und das ist gut so,“ unterstrich Fuchs den Grundtenor seines Vortrags. Es sei entscheidend, dass Menschen in ihrem Heranwachsen produktiv auf diese handelnde, erkundende und aktive Form des Erlebens herangeführt werden. Die neuesten neurowissenschaftlichen, medizinischen und psychologischen Forschungen zeigen, dass die Lern- und Lebensfähigkeit des Menschen untrennbar mit dem Beziehungsgefüge zur Welt, zu Gegenständen, zu anderen Personen, Naturelementen und Lebewesen verbunden bleibt: Das menschliche Gehirn und die Verhaltensweisen von Personen gehen zu einem großen Teil auf die Nachahmungs-, Internalisierungs- und Resonanzprozesse zurück, die bereits in den ersten Lebensjahren grundgelegt werden. „Der Mensch lebt und lernt mit seiner leiblich-emotionalen Intersubjektivität. Hier liegen die Grundlagen von Empathie, sozialer Anpassungs- und Beziehungsfähigkeit“, ergänzte Fuchs. Menschliches Leben baue auf ein ganzes neuronales, soziales und kommunikatives Resonanzgefüge auf, zentrale menschliche Fähigkeiten können gar nicht ohne die zugrundeliegenden Beziehungsgeschehen gedacht werden. Wird die menschliche Entwicklung nicht schon von Beginn an in Richtung der sozialen und intersubjektiven Lernmomente gefördert, können Lücken in der späteren Sozialfähigkeit von Personen entstehen, die nur mehr schwer oder gar nicht mehr ausgeglichen werden können. Der ganze Mensch in seiner emotionalen Leiblichkeit wird beim Lernen beansprucht, die Bildungswege laufen letztlich auf allen menschlichen Existenzebenen ab: Bildung ist bis in die späteren Lebensphasen ein psychischer, physischer, emotionaler, theoretischer und praktischer Prozess.

„Wer Lernen nicht als interaktives Entdecken, als wechselseitiges Geschehen zwischen Mensch und Welt, zwischen Personen untereinander und Geschehen sich ergänzender Aufmerksamkeit sieht, ignoriert nicht nur die überwältigende Befunde der Forschung“, warnte Fuchs. „Vielmehr wird die menschliche Fähigkeit zu kultureller Kompetenz, zu solidarischem Miteinander und sprachliche Interaktion gefährdet.“ Lernen sei schlichtweg mehr als passive Aufnahme oder bloßes Nachahmen: „Lernen ist kooperatives Erarbeiten, intersubjektives Beziehungsgeschehen und individuelles Erkunden. Das Teilen von Absichten, Emotionen, Zielen und Handlungen ist dem Menschen sprichwörtlich in die Wiege gelegt“, so der Heidelberger Experte. „Nur darauf können Vertrauen, Glauben und Zuversicht aufbauend angeeignet werden.“ Die Selbstwirksamkeit menschlicher Individuen baut auf die „verkörperte Entwicklung und verkörperte Beziehung“ auf, sie könne gar nicht ohne das damit verbundene Gefühl personaler Aktivität und individueller Kompetenz ausgebildet werden.

Moderne Medien seien gerade deshalb eine enorme Herausforderung für das menschliche Lerngeschehen – denn die intensive Mediennutzung kann gerade nicht als soziales Interagieren gesehen werden, die „soziale Räumlichkeit“ moderner und modernster Technologien sei eben keine reale Räumlichkeit. Dies falle nicht nur auf die motorischen Fertigkeiten zurück (Stichwort „Wischen“ auf Bildschirmen), sondern auch kognitive Leistungen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentration leiden unter der geringeren sozialen Einbettung bzw. reduzierten individuellen Aktivität bei moderner Mediennutzung. „Leben und Erleben, Lernen und Bewegung gehören untrennbar zusammen – und das nicht nur im Kleinkindalter, sondern auch in den späteren Lebensjahren. Ab dem Säuglingsalter prägen die körperlichen, sozialen Handlungserfahrungen des Menschen auch die Fähigkeiten von Selbststeuerung, Konzentration, Aufmerksamkeit und kognitiven Flexibilität.“ Eine moderne Pädagogik müsse das motorische Erleben, interaktive Geschehen und räumliche Gegenwart stark machen. „Leiblichkeit, personale Interaktion und sensorisches Erfahren müssen aus neurowissenschaftlicher, entwicklungspsychologischer und medizinischer Sicht ein notwendiger Teil einer lernenden Weltaneignung sein“, betonte Fuchs. Dies sei kein Aufruf dazu, digitale Medien aus dem Schul- und Lernalltag zu verbannen, sondern für eine differenzierte Integration dieser neuen Technologien, ohne die analogen, körperlichen und motorischen Fundamente zu ignorieren. Eine Pädagogik, die der gesunden Entwicklung des Kindes verpflichtet ist, kann die körperliche, sensomotorische Dimension menschlichen Lernens, die sozialen und interaktiven Momente der Entwicklung nicht ausklammern. Methoden, Ansätze und moderne Lehrpläne müssten sich an diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren, wenn sie tatsächlich der gesunden Entwicklung und nachhaltigen personalen Identitätsbildung dienen möchte.

 

Kindliches Erleben und Erfahren in neuen pädagogischen Lern- und Bildungsräumen

„Draußen-Räume werden zu einem immer wichtigeren Feld der pädagogischen Forschung und Praxis. Diese neu entdeckten Bildungsumgebungen ermöglichen neue Formen des Lernens und eine enorm wichtige Möglichkeit zukunftsfähig Pädagogik zu gestalten“, zeigte sich Iris Nentwig-Gesemann sicher. Die Südtiroler Erziehungswissenschaftlerin versucht in ihrer Forschung noch stärker die Perspektive der Kinder für eine räumliche Gestaltung der Lern- und Lehrräume zu integrieren. Hier seien nicht zuletzt die zeitgeschichtlichen Umstände der Gegenwart entscheidend: In einer Zeit, in der die Fragilität der Umwelt, der Klimabedingungen menschlichen Lebens und der gesellschaftlichen Beziehungen immer drastischer in den Blick treten, sei es entscheidend, das Welt-Erleben und eine ressourcensensible Raumbeziehung bereits in der Einbeziehung kindlicher Lernräume mitzudenken. „Die Pädagogik muss in ihren Ansätzen nicht zuletzt die Mensch-Welt-Umwelt-Konstellation noch stärker aufnehmen“, forderte Nentwig-Gesemann mit Verweis auf das „Common Worlding“, das von den Vereinten Nationen in den letzten Jahren stärker forciert wurde.

Ein neuer Ansatz innerhalb der Pädagogik, der das „Common-Worlding“ in den Blick nimmt, habe auf einem fundamentalen Perspektivenwechsel aufzubauen: „Es geht darum zu fragen, wie Kinder und Jugendliche die Welt und die Umwelt erleben, sich mit ihr aktiv in Verbindung und Beziehung setzen und in weiterer Folge die eigene personale Entwicklung im Austausch und kooperativen Geschehen mit der Welt gestalten.“ Nentwig-Gesemann plädierte dafür, von der klassischen Architektur der Bildungsräume „für Kinder“ zu einem Ortswechsel zu kommen, in dem die bedeutungsrelevanten Plätze aus Sicht der jungen Menschen gezielt aufgesucht werden. „Kinder erleben die Naturräume und Draußen-Orte als faszinierende, herausfordernde und zugleich bedeutungsvolle Entdeckungsumgebungen“, so die Fachpädagogin. Lernverhalten, interaktive Bereitschaft und ungeleitete Offenheit für das Naturerforschen seien durch den Raumwechsel gezielt verändert. „Der Naturraum ändert das Lernerlebnis, es kommt zu einem personal-naturbezogenem Resonanzgeschehen, in dem die Kinder in einen multiperspektivischen Interaktionsprozess mit der Natur, ihren gleichaltrigen KameradInnen sowie der Lehrpersonen eintauchen“, unterstrich die Forscherin.

Die natürlichen Materialien würden sich psychologisch und motorisch auf das Welterleben der Kinder auswirken: „Die sehr komplexe Beziehung von jungen Menschen zu den Gegenständen natürlicher Umgebungen, Waldstücken, Wiesenflächen oder Berglandschaften lässt eine ganze neue Welt entstehen und zwar ausgehend von der aktiven Welterschließung, Fantasie und Interaktion der Kinder mit der vorfindbaren Welt.“ Die Qualität der Draußen-Räume steigere sich mit dem aktiven Welterleben der Kinder, die sich darin nicht nur als passive RezipientInnen einer Bildungsweitergabe erfahren, sondern als maßgebliche MitgestalterInnen erleben. Kinder haben sich auf diesen natürlichen Raum einzustellen, sie täten dies aber in einer subjektiv aneignenden Art und Weise, unterstrich Nentwig-Gesemann. Aufgrund dieser vielschichtigen und komplexen Situation werde nicht zuletzt auch das soziale Miteinander der Kinder gefördert, wenn sie in Paaren, Teams oder Gruppen aktiv werden: „Für Kinder ist das Naturerleben ein Erlebnis mit allen Sinnen, mit unterschiedlichen Subjekten, mit aktiven und passiven Momenten der Interaktion. Es kann gar nicht genug unterstrichen werden, welchen Mehrwert ein natürlicher Lern- und Bildungsraum aufweist, als eine künstlich geschaffene Umgebung, so funktional, durchdacht und abgesichert diese sind.“ Kinder würden in der Natur deshalb im interaktiven Geschehen Vorsicht, Planung, Selbstschutz und Experimentierfreudigkeit lernen, weil sie gerade nicht in einer vorgefertigten Situation und Szenerie eingebettet sind, sondern den Raum erst erschließen müssen.

Jüngste Forschungsergebnisse weisen in die Richtung, dass frühe Naturerlebnisse und die Herausbildung eines naturbewussten und ökologiesensiblen Weltbildes zusammengehören. Auch wenn hier noch wenige Studien vorliegen und noch Einiges an Forschungsarbeit zu leisten ist, könne man Umweltbildung, frühkindliches Naturerleben und Lernen in Draußen-Räumen bereits heute als unerlässliche Elemente einer natursensiblen Bildung ansehen. „Der Zusammenhang hört aber nicht beim Umweltbewusstsein auf, sondern reicht weiter: Auch die persönliche Lebenszufriedenheit, Erholungsfähigkeit, naturethische Ausrichtung und intuitive Naturverbundenheit bauen auf einer möglichst frühen und selbsterfahrenen Lernerfahrung in Draußen-Räumen auf“, schloss Nentwig-Gesemann.

 

Veränderungen und das eigene Selbst – warum Nächstenliebe nicht ohne Selbstfürsorge auskommt

Im Abschlussvortrag der 72. Internationalen Pädagogischen Werktagung wendete der Theologe und Autor Pierre Stutz den Blick auf den persönlichen Umgang mit Umbrüchen im eigenen Leben. Der Schweizer Spiritualitätslehrer verwies dabei auch auf seine eigene Biografie: „Nur wenn man die Änderungen im eigenen Dasein in das Welt- und Menschenbild integrieren kann, ist ein produktives Verhältnis zu anderen Personen möglich“, so Stutz. Deshalb sei es unerlässlich, dass die Selbstachtung mit der Nächsten- und Gottesliebe in einer dauernden Beziehung steht. „Das eine gibt es nicht ohne das andere. Wer zu sich selbst kein gesundes, ausgeglichenes und trotz aller Krisen, Hindernisse und Narben der Vergangenheit positives Verhältnis hat, wird auch nur schwer ein wertschätzendes und beziehungsoffenes Miteinander zu anderen Menschen entwickeln können“, schloss der Theologe weiter.

Die persönliche Suche sei eine spirituelle Reise vorbei an Wendepunkten, zwischen Umbrüchen, Lebensstationen und in Zwischenräumen der Existenz: Diese „Inter“-Räume des Lebens seien Chancen und Aufgabe zugleich – Menschen blieben ständig aufgefordert, sich in ihrem Leben beiseite zu nehmen, sich Zeit zu geben und an der eigenen personalen Ausrichtung zu arbeiten. Nur im ständigen Austausch mit sich selbst, mit anderen, im Bewusstsein von Erfolg und Scheitern, von Vorläufigkeit und Erfüllung, kann sich das komplexe Geschehen von Selbst-, Welt- und Menschenerleben entfalten. „Wo Menschen vergessen, für sich selbst zu sorgen oder die eigenen Brüche im Leben zu bearbeiten, dann steht viel mehr an der Kippe als ein Gefühl der Zufriedenheit“, zeigte sich der ehemalige Schweizer Priester überzeugt. Er selbst habe jahrelang darunter gelitten, weil er seine „eigene homosexuelle Begabung nicht anerkannt und in die persönliche Lebensweise integriert habe.“ Erst mit einem versöhnten Verhältnis zu sich selbst sei es ihm gelungen, zu einem produktiven Umgang mit sich, mit anderen, mit der Welt und mit den Mitmenschen zu kommen. Das empathische Dasein des Menschen sei darauf angewiesen, dass man den Umgang mit sich selbst pflegt, kultiviert und sich immer wieder neu darum bemüht.

Pierre Stutz betonte in seinem sehr an seiner Lebensgeschichte orientierten Vortrag, dass seine eigene spirituelle Tiefe, mystische Ausrichtung, mitmenschliche Beziehungsfähigkeit erst mit der gelungenen Selbstintegration ermöglicht wurde. Lange Zeit habe er seine innere Verletzlichkeit und persönliche Identität mit einem unantastbaren Panzer schützen wollen. Erst aber im Bewusstsein, dass dieser jahrelange Kampf vergeblich sei, konnte in ihm ein Gefühl dafür wachsen, einen Prozess der Freundschaftsschließung mit sich selbst zuzulassen. „Wie konnte ich mich so lange selbst im Stich lassen?“, war eine der damaligen Leitfragen, die letztlich zum öffentlichen Coming-Out des damaligen Priesters Pierre Stutz geführt haben. „Wie konnte ich den kleinen Pierre in mir schutzlos alleine lassen?“

Heute sei er überzeugt, dass die Tiefpunkte seines Lebens mitverantwortlich dafür waren, dass dieser Prozess ins Laufen gekommen ist. Erst in den Zeiten schwerer Depression, psychischen Drucks, Burn-Out-Syndrom inklusive, begann der liebevolle Blick auf das eigene Leben, die persönliche Geschichte und das eigene Werden. „Es gibt in jeder noch so schweren und undurchsichtigen Situation einen ‚Crack‘ (engl. Spalt), durch den das Licht durchdringen kann“, resümierte Stutz unter Rückgriff auf Leonard Cohen. Veränderung im Leben seien keine Hindernisse, vor denen man davonlaufen könne oder die es zu vermeiden gelte. Vielmehr gehöre es zum menschlichen Auftrag, diese zu be- und verarbeiten. „Verliere die Angst vor deiner Größe, ohne größenwahnsinnig zu werden. Wirf die Angst vor deiner Angreifbarkeit ab, ohne selbst gewalttätig zu werden“, gab Stutz zu bedenken.

Nur in der Balance zwischen dem eigenen Sein, der eigenen Selbstakzeptanz und -wirksamkeit könne ein produktiver Umgang mit den anderen Menschen, den Herausforderungen im Leben und dem persönlichen Zugang zur Welt als Ganzer gefunden werden, so Stutz. „Im Aufheben zwischen der dauernden Konkurrenz zwischen Gott, Welt und Mensch liegt der Schlüssel zu einem integrierten Lebensstil, in dem sich Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstachtung zu einem stimmigen Ganzen verbinden“, zeigte sich Stutz überzeugt. „Nur in der heilenden Zuwendung zu sich selbst, kann die Energie für die Hinwendung zu Gott und die Mitmenschen gefunden werden.“ Dies erfordere Überwindung, ein mutiges Selbstbewusstsein, aber in der jüdisch-christlichen Tradition finde man in der Schöpfungserzählung den ermutigenden göttlichen Zuspruch: „Du kannst es! Du bist genug, du bist so, wie Gott es haben wollte!“ Hier gelte es anzusetzen, wenn die eigene Personalität zu einem „Segen für die anderen“ werden sollte. „Wer sich selbst nicht liebt, kann andere nicht lieben!“

 

Text: Andreas G. Weiß, Katholisches Bildungswerk Salzburg

Fotos: EDS/hiwanagahshi