Spielen als lernende Befähigung, kindliche Sprache und therapeutische Kraft

Salzburg (15.7.22, Katholisches Bildungswerk Salzburg). Zum Abschluss der 70. Internationalen Pädagogischen Werktagung stand noch einmal das kindliche Spiel im Mittelpunkt des Interesses. In drei Fachvorträgen wurde die Faszination mit der spielerischen Seite menschlicher Existenz gewürdigt und als pädagogische Ressource herausgestellt. Die neuen Facetten rundeten die erfolgreiche Jubiläumstagung in Salzburg ab.

- Univ.-Prof. DI Dr. Fares Kayali (Wien) zeigte Dimensionen und Möglichkeiten bei der Nutzung digitaler Spiele in Bildungsprozessen auf. Mit dem Ziel, jungen Menschen kreativ, selbstermächtigt und gestaltend die Teilnahme an Technik-Diskursen zu ermöglichen, könne ein spielerischer Umgang mit modernen Technologien innerhalb der Bildungsarbeit für Innovationen sorgen, gleichzeitig aber auch die Bedürfnisse der jungen Menschen aufnehmen.

- Dipl. Sozialpädagogin Helga Lindner (Abensberg/D) stellte die pädagogische und therapeutische Qualität des freien Spiels in das Zentrum ihres Beitrags. Auf Basis des Spielverhaltens ließen sich nicht nur Rückschlüsse auf die Entwicklung des Kindes anstellen, sondern das Spielen könne auch kindliche Selbstheilungskräfte aktivieren. Pädagoginnen und Pädagogen sollten sich demnach auch des Spiels als Sprache der Kinder bewusst sein.

- Dr.habil. Gabriele Haug-Schnabel (Kandern/D) fragte sich, ob und wie Erwachsene und Kinder eine gelingende Spielebeziehung aufbauen können. Dass dies durchaus geschehen kann, zieht die Expertin nicht in Zweifel. Jedoch müssten sich Erwachsene der ungeregelten Form kindlichen Spieles anpassen, denn das kindliche Spiel läuft nicht einfach nach vorgefertigten, angeleiteten oder fremden Regelsystemen ab. Eine zukunftsfähige Haltung von Kindern hänge nicht zuletzt von einem gelingenden Spielverhalten ab. Die Erwachsenen seien dabei nicht dafür da, etwas anzubieten oder vorzugeben, sondern die Kinder in ihrem eigenen Spielverhalten und Versuchsdrang zu begleiten.
 

Spielerisch und digital: Die Pädagogik der Befähigung im 21. Jahrhundert

„Computational Empowerment“ heißt das Schlagwort, unter das Prof. Dr. Fares Kayali den Großteil seiner Arbeit stellt: Am Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität Wien forscht und lehrt der ursprünglich im Bereich der Informatik angesiedelte Experte über Möglichkeiten, wie moderne Medien und digitale Spielekonzepte die Bildungsarbeit unterstützen können.

„Kinder sollen und wollen im Lernprozess beteiligt werden“ – dies sei keine Einsicht des digitalen Zeitalters, wohl aber trete sie im Kontext technischer Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte unter neuen Aspekten zutage, so Fares Kayali. Im Zusammenhang mit neuen Medien gelte es, einen konstruktiven, zugleich aber auch kritischen Zugang zu diesen zu erwerben. Dabei stehe nicht zuletzt auch die Frage der Beteiligung in der modernen Gesellschaft im Raum, da weite Teile der demokratischen Partizipationsprozesse bereits jetzt über digitale Wege laufen.

Für die Pädagoginnen und Pädagogen ergibt diese Tendenz neue Herausforderungen, ebenso aber Ressourcen: Die Differenz zwischen dem Lernen über die Digitalisierung stehe vielerorts nach wie vor in einer Spannung zum Lernen mit der Digitalisierung. „Computational Empowerment“ umfasst dabei beide Bereiche, so Kayali, möchte aber mit dem Ziel der gesellschaftlichen Ermächtigung zu Teilhabe und Mitgestaltung noch einen Schritt weiter gehen. „Es geht darum, junge Menschen zu eigenständigen, mitgestaltenden und innovativen Personen heranzubilden. Eine wesentliche Chance, diesen Prozess anzuleiten und zu begleiten läuft über spielerisches Lernen ab.“

Lernen von Beteiligung in technologiebasierten Projektspielen

Gegenwärtig sind bereits zahlreiche Projekte in diesem Feld realisiert worden und können beispielhaft für die pädagogischen Erfordernisse in diesem Zusammenhang gelten. Dabei steht die Realisierung der Inhalte im außerschulischen Alltag im Blickpunkt. „Durch das Erleben, Gestalten und Umsetzen der spielerischen, technologiebasierten Formate wird den jungen Menschen der Praxisbezug ihres Lernens mitgegeben“, stellt der Wiener Experte fest. Durch diesen Transfer spielerischen Lernens werde der Anteil der Eigenmotivation gesteigert und die Sinnhaftigkeit der Inhalte auf direkte Weise vermittelt. Es zeigte sich etwa bei Projekten, wie dem eigenen Gestalten von Spielen, dem gruppenbasierten Schneiden von Videos oder einfachsten Formen interaktiver Zusammenarbeit, dass sich die kritische Sensibilisierung der Schülerinnen und Schüler gegenüber Informatik, Gesellschaft und Medien deutlich erhöhte.

Durch den Aspekt der Ermächtigung werde der Anteil der Eigeninitiative enorm gesteigert, auch weil sich die SchülerInnen die Regeln der Zusammenarbeit über weite Strecken selbst geben. Dies fördert die Kooperation, gleichzeitig aber auch die zwischenmenschliche Empathiefähigkeit innerhalb der Projektgruppen. Der Wiener Bildungsforscher zeigte sich überzeugt: „Die Befähigung junger Menschen im digitalen Raum kann durch die Einbindung von technologiebasierten Spielen enorm gesteigert werden. Der Konnex vom praktischen Lernen, vom Ausprobieren und Experimentieren zum außerschulischen Leben läuft über das Maß der Beteiligung in beiden Bereichen. Im ‚Computational Empowerment‘ zielt die Vermittlung auf eine autonome, kritische und kreative Nutzung moderner Technologie ab.“

Die pädagogische und therapeutische Kraft des Spieles

„Nimmt man das Spiel in seiner Komplexität wahr, dann ist es ein äußerst ernstes und vielschichtiges Phänomen“, stellte Helga Lindner klar. Die diplomierte Sozialpädagogin betonte, dass im menschlichen, besonders aber im kindlichen Spiel weit mehr stecke als Zeitvertreib oder unbeschwerte Leichtigkeit. Wie die innovativen Entwicklungen im Bereich der Spieltherapie in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt haben, vereint das Spielen in sich zentrale Aspekte aus Pädagogik und therapeutischer Arbeit.

Die Aufgabe der Pädagoginnen und Pädagogen sei es, das Spiel als Ausdrucksform, sogar als mehrdimensionale Sprache des Kindes zu verstehen. Im Spielverhalten geschieht eine unmittelbare und authentische Mitteilung der Kinder an ihre Umwelt. Die Signale, die hier ausgesendet werden, können, ja sie müssen, so Helga Lindner, analysiert und verstanden werden. Die Rückschlüsse aus diesen Botschaften haben wesentliche Auswirkungen auf die pädagogischen und therapeutischen Beziehungen zu den Kindern.

Für Kinder bestehe ihr Spielraum in einem abgesteckten Raum der Möglichkeiten. Dabei ist diese Sphäre keinesfalls grenzenlos und ungeregelt: Vielmehr müssen wesentliche Bedingungen erfüllt sein, damit Kinder in einem wirklich freien und authentischen Spiel aufgehen, ist sich die deutsche Sozialpädagogin sicher. Im Umkehrschluss bedeute das aber, dass dem kindlichen Spiel ein Raum zugemessen wird, damit dort die spielerische Selbstwirksamkeit des Kindes unabhängig von externen Vorgaben und Regeln gelingen kann.

Bindung, Beziehung und Vertrauen gehören zu einem gelingenden Spieleverhalten dazu. Die Begleitung von kindlichem Spielen baut dabei auf wesentlichen Elementen auf: Wohlwollendes Zuhören, Orientierung, Aufmerksamkeit und Schutz werden benötigt, damit Kinder ein vertrauensvolles Miteinander im Spiel entdecken können. Die Beziehungen rund um den kindlichen Spielraum sind auf diese Weise Faktoren, die das Spiel ermöglichen und begünstigen. Die Fantasiewelten der Kinder würden, folgt man Helga Lindner, auf den realen Bedingungen ihres Spielraumes aufbauen. „Dies kann für die pädagogischen Spielbegleiterinnen und -begleiter natürlich anstrengend sein: Das Begleiten der kindlichen Spiele ist nämlich echte Beziehungsarbeit.“, stellte die deutsche Expertin klar. Wertschätzung und Empathie sind Energiequellen für das kindliche Spiel, aber diese müssten erarbeitet werden – sowohl von den Kindern als auch von den Begleiterinnen und Begleitern: „Das kindliche Spiel bedarf der Pädagogik, es braucht das Beziehungsgefüge, das den Spielraum stützt.“ Gleichzeitig mute es der Erziehungsarbeit aber auch zu, keine vollständige Kontrolle über die Abläufe und Inhalte der Spielformen zu haben.

Einfach nur spielen?

Die renommierte Verhaltensbiologin und Ethnologin Dr. Gabriele Haug-Schnabel setzte mit ihrem Abschlussvortrag einen inhaltlichen Schlusspunkt. Die Leiterin der „Forschungsgruppe Verhaltensbiologie am Menschen“ (FVM) in Kandern (D) und Autorin zahlreicher Fachbücher widmete ihren Beitrag der Frage nach dem Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern im Bereich des Spiels.

Immer wieder tauche, so Gabriele Haug-Schnabel, die Frage auf, ob im Kindergarten überhaupt noch so viel gespielt werden müsse oder ob die Zeit dort nicht schon mit Lernen verbracht werden könnte. Die deutsche Autorin und Fachexpertin widerspricht: „Die Kinder im Kindergarten haben ihre sehr persönlichen Ziele, die sie dort in den Alltag eigenmotiviert mitbringen.“ Dies bedeute, dass die kleinen Menschen keineswegs ohne Vorstellung oder Planung ihre Tage durchleben, sondern sie setzen sich selbst Planungen, die sie in ihrem Handeln, Spielen und Tun verwirklichen wollen. Das Spiel sei demnach Teil eines umfassenden Lernprozesses, nicht ein Widerpart des schulischen Lernens.

Kinder jeden Alters bilden im Spiel ihre eigenen Ansprüche, Problem- und Lösungsansätze, bei denen sie begleitet werden müssen, aber deren Formulierung nicht von außen an sie herangetragen werden soll. Die Kinder in den unterschiedlichen Entwicklungsschritten stehen vor jeweils besonderen Herausforderungen, Fragen und der Suche nach Lösungen: Sie agieren in ihrem Spiel als kleine Forscherinnen und Forscher, die Pläne entwickeln, verwerfen, modifizieren oder wiederholen.

Das kindliche Spiel als pädagogische Herausforderung

Die Herausforderung der Pädagogik besteht darin, diese selbstermächtigten Schritte zu ermöglichen, zu begleiten und nicht mit vorgefertigten Regeln, Modellen oder Zielvorstellungen zu überschütten. „Ein Kind hat ein Recht auf ein geschütztes Spiel. Es soll seinen Arbeitsplatz selbst frei wählen können und entscheiden, wann, wo und mit wem es arbeiten will.“ Das Spiel ist damit ein hoher Anspruch an die kindlichen Entscheidungen.

Gabriele Haug-Schnabel forderte deshalb, „die Chance zu nutzen und von der immer noch dominierenden Angebotspädagogik in eine Begleitungs- und Beobachtungspädagogik zu steuern, in der interessens- und entwicklungsorientiert am einzelnen Kind zunächst beobachtet, erst in einem weiteren Schritt gehandelt wird.“

„Kinder brauchen keine Beschäftigung durch Erwachsene, sondern professionell gestaltete Umgebungen, in denen Kinder vielfältige und ihrem Entwicklungsstand angemessene Teilhabe und aktive Gestaltung entwickeln können.“ Man solle nicht den Fehler machen, die kindlichen Tätigkeiten zu unterschätzen: Jeder Tag im Leben eines Kindes ist eine Entdeckungsreise, die es selbst planen, durchführen und individuell realisieren können soll. Gabriele Haug-Schnabel betonte, dass es gerade diese spielerischen Freiräume sind, die die Entwicklung eines Kindes zu selbstbewussten, autonomen und aktiven Menschen nachhaltig beeinflussen. Die ermöglichte Selbstaktivität abseits vorgegebener Regeln sei ein Grundmerkmal kindlichen Spiels. Das Spiel wiederum ist eine Form kindlichen Lebenslernens.

Die professionelle Umgebung in pädagogischen Settings entscheidet oftmals über die Qualität des Spieles, da hier Beeinflussung, Vorgaben oder Settings, die durch Erwachsene vermittelt werden, Überhand nehmen können. Eine spielorientierte Pädagogik jedoch wird die Eigeninitiative der Kinder fördern, ihr aber nichts vorgeben oder vorwegnehmen. Dann könne das Spiel seine ureigenste Wirkung entfachen, nämlich das Lernen im umfassenden Sinn zu begleiten und zu ermöglichen.

Ausblick                                                                                                                                        

Die 71 .Internationale Pädagogische Werktagung wir vom Mi, 12. bis Fr, 14. Juli 2023 unter dem Thema „Zuversicht stärken“ (Arbeitstitel) stattfinden.