Leben lernen trotz aller Verluste

Schriftsteller Daniel Schreiber über die Trauer als persönliches, familiäres und gesellschaftliches Phänomen

In einer moderierten Lesung mit persönlichem Gespräch war der bekannte deutsche Autor, Übersetzer und Publizist Daniel Schreiber in der Panoramabar der Stadt:Bibliothek Salzburg zu Gast. Bei dieser Veranstaltung zeigte sich der Schriftsteller überzeugt: „Das Gefühl des Verlustes durchzieht unser Leben im Großen wie im Kleinen.“ Die Bereiche dieser Trauererfahrungen verschwimmen, sie sind nicht einfach voneinander abzugrenzen, bleiben aber dennoch eine Konstante des Menschseins, unterstrich Schreiber. „Der Umgang mit Verlusten eint und trennt uns gleichermaßen. Das Leben zu bewältigen bleibt dabei aber eine Aufgabe, die trotz aller Hindernisse immer wieder von Neuem gemeistert werden kann.“

Salzburg (Stadt). Ausgangspunkt für das neueste Buch des viel gelesenen Autors Daniel Schreiber war ein persönlicher Schicksalsschlag. Der Tod seines Vaters setzte in ihm ein Grundgefühl frei, welches das menschliche Dasein in vielen Situationen durchzieht: Das Gefühl des Verlustes und der Trauer. Der Publizist nähert sich in seinem neuesten, biographisch angelegten Essay „Die Zeit der Verluste“ der Thematik jedoch nicht als bloß subjektiver Lebensreflexion, sondern auf Basis interdisziplinärer Zugänge, die das Gefühl des existentiellen Verlustes in einer umfassend anthropologischen Ebene einzuordnen versuchen.

„Jede Trauer ist so individuell, dass sie sich allen Kategorisierungen entzieht“, betonte Schreiber. Zugleich stünden jedoch alle an unterschiedlichen Stellen ihres Lebens vor genau dieser Herausforderung. „Der Umgang mit dem Verlust ist kräfteraubend, überfordernd und überwältigend.“ Diese Erfahrung eine und trenne die Menschen gleichermaßen: Trauer sei ein Existential, zugleich unverwechselbare, personale Intimität. Sie könne nicht nur im Leben einzelner Menschen, sondern auch in Gruppen, Gemeinschaften und ganzen Gesellschaften auftreten. Verlust sei auch ein gruppendynamisches Phänomen, das ganze Generationen, Gemeinschaften, Staaten und Kollektive durchziehen kann. Flucht, Vertreibung, Wegfall von Hoffnungen, Stabilität oder Gewissheiten stellen für Menschen eine ebenso bedrohliche und tragische Form der Einsamkeits- und Verlorenheitserfahrung dar wie der Tod im persönlichen Umfeld. Solche Erfahrungen begünstigen gesellschaftliche Tendenzen zu apokalyptischen Untergangsszenarien oder auch quasi-endzeitlicher Radikalisierungen.

Die persönlichen Erfahrungen aus seinem Leben verbindet Daniel Schreiber auf diese Weise mit philosophischen, psychologischen, soziologischen und lebenspraktischen Überlegungen. Seine Recherchen aus zahlreichen Bereichen, aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen hätten ihm aber klargemacht, dass die Grenzerfahrung des Verlustes letztendlich immer nur in der fundamentalen Individualität erfahren wird: „Menschen, die trauern, fühlen sich zunächst immer einsam und verloren,“ weiß Schreiber.

„Mit der Trauer bricht eine Welt zusammen. Mit dem Verlust dieser Welt verbindet sich eine Veränderung des Menschseins und die unumgängliche Aufgabe, das Leben trotzdem neu leben zu lernen.“ Es sei keine alltägliche Beschäftigung, sich existentiell und am eigenen Leib mit immer noch sehr weit verbreiteten Tabus wie der Trauer, der Einsamkeit, der Verlorenheit oder der kollektiv-ängstlichen Orientierungslosigkeit auseinanderzusetzen. Wo dies aber nicht geschieht, so Daniel Schreiber, wird das Gefühl nicht gemindert, sondern vielfach verstärkt, manchmal sogar gefährlich. „Die Erfahrung von Trauer bleibt letztlich immer eine Überforderung. Wir alle sind und bleiben in gewisser Weise auch unfähig, damit umzugehen. Trauer holt uns am verwundbarsten Punkt unseres Lebens ein, sie stellt uns – selbst wenn wir sie schon mehrmals durchlebt haben – immer wieder neu die Unentrinnbarkeit des Verlustes vor Augen,“ ergänzte Schreiber. Dies mache die Fragilität der eigenen Person besonders spürbar.

Menschen müssten jeden Tag neu durch ihre Trauer hindurch, sich dem Gefühl des Verlustes stellen, haben auf diese Weise aber immer neue Möglichkeiten, sich dieser Leere zu stellen. Dies habe auch damit zu tun, dass Tod, Verlust und der menschliche Verfall in Krankheit und Alter immer noch in vielen Bereichen der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden. Diese kollektive Verdrängung suggeriere eine klare Grenze zwischen dem Lebendigen und dem Verblichenen – wo das Leben herrsche, habe der Tod keine Präsenz und umgekehrt. Tatsächlich aber fände der Tod immer wieder Eingang in unser Leben und dies oftmals dann, wenn man es nicht erwarten würde. Zugleich aber zeige sich die Macht der Endgültigkeit des Abschieds und der Trauer sogar dann, wenn man sich vermeintlich darauf vorbereiten oder verabschieden konnte.

Die Hilflosigkeit der Menschen in solchen Extremsituationen zeige sich an unterschiedlichen Stellen – etwa dem Zurückgreifen auf Floskeln, in der Verdrängung, in der Flucht –, zugleich verbindet sie das Gefühl der Ohnmacht, durch das sie – alle in der radikalen Individualität – hindurchmüssen. Tod, Trauer und Verlust würden eine tatsächliche und aktive Auseinandersetzung durch die betroffenen Menschen erfordern, aber die jeweilige Verarbeitung und Bewältigung habe auf höchst singulärer Art und Weise zu geschehen, die wiederum personal und biographisch geprägt und damit unverwechselbar mit der eigenen Geschichte verbunden ist. „Natürlich können sich Menschen beistehen, stärken oder Unterstützung zusprechen“, so Schreiber. „Aber auch im kollektiven Verlust unserer Tage zeigen sich wiederum zyklische Erfahrungen, die bereits von vielen Menschen anderer Zeiten gemacht wurden, die aber uns heute nicht davor bewahren, ähnliche Erfahrungen erneut durchmachen zu müssen.“

Am Ende fand Daniel Schreiber auch hoffnungsvolle Worte: „Die Menschen zeigen immer wieder, dass diese Bewältigung möglich ist. Jeder Mensch kann auf seine eigene Weise, aber auch im Umgang mit seinem Umfeld einen Weg finden, die durch den Abschied verlorene Welt wieder von Neuem aufzubauen.“ Diese sei zwar immer anders als zuvor, aber kein minder lebenswertes Dasein.

Eine Veranstaltung des Katholischen Bildungswerkes Salzburg gemeinsam mit der Stadt:Bibliothek Salzburg und dem Katholischen AkademikerInnenverband Salzburg.


A. W., März 2024

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