Innere Begegnungsräume erschließen

Traditionellerweise klingt die Internationale Pädagogische Werktagung spirituell aus und so richteten Emmanuel Bauer und Melanie Wolfers am letzten Vormittag der Tagung ihren Blick auf innere Beziehungsräume und Aspekte des Daseins, die ein erfülltes Leben ermöglichen.

 Im Alltag definieren wir Räume zumeist als dreidimensionale Bereiche, in denen sich etwas befindet. Was allerdings ist die Bedeutung von Raum über seinen geometrischen, mathematischen Begriff hinaus? Der Existenzanalytiker Emmanuel J. Bauer weist auf die etymologischen Wurzeln des Wortes Raum, das althochdeutsche „rûm“, hin. Es beschreibt einerseits einen freien, nicht ausgefüllten Platz und andererseits eine Lagerstätte, Bett oder Ruheplatz. Bereits von diesen Zuschreibungen lässt sich eine Polarität des Raumbegriffes ablesen, die zwischen Weite/Offenheit/Entfaltungshorizont und Enge/Schutzraum/Sicherheit oszilliert. Beide Pole seien Grundbedingungen für das menschliche „Existieren“, das sich vom einfachen „Sein“ dadurch unterscheide, dass der Mensch durch Verstehen und freies Handeln sein Leben selbst gestalten und mit Sinn befüllen kann. Anstatt von Selbstbestimmung stellt sich bei vielen Menschen aber ein Gefühl des passiven „Gelebt-Werdens“ ein, wenn sie eher funktionieren als leben, von einer Sache getrieben sind, sich gezwungen fühlen sich ständig anzupassen oder sogar dahinvegetieren. „In unserer narzisstisch veranlagten Welt steht der Mensch unter Druck, mehr auf den Schein zu achten als auf das Sein“, gibt Bauer zu bedenken und unterstreicht die Bedeutung von bewussten Entscheidungen als Schlüssel zu einer erfüllten Existenz. Selbstwirksame Entscheidungen setzten Nähe zu sich selbst und Momente des Innehaltens voraus. Viele Menschen fänden in solchen Augenblicken aktiver Stille im Alltag auch „Orte Gottes“. Bauer sieht im Mut innere Räume zu betreten den erste Schritt zum wahren Selbst-Sein und zu wahrer Freiheit.

 Melanie Wolfers empfiehlt ebenfalls, sich Zeit und Raum zu nehmen für die Begegnung mit sich selbst, denn schließlich ist man selbst die Person, mit der man Tag für Tag verbringt. Wer „regelmäßig bei sich selbst eincheckt“ komme auch in unserer hektischen Zeit zur Ruhe und schließlich bei sich selbst an. In Analogie zu zwischenmenschlichen Freundschaften spricht die Theologin von der „Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein“. Wie jede Freundschaft lebe auch die Selbstbeziehung davon, sich bewusst Zeit zu nehmen, sich an Stärken zu erfreuen und Schwächen als Teil der Persönlichkeit anzunehmen. Während Freunden Fehler meist nachgesehen werden, herrsche im Umgang mit sich selbst oft übermäßige Strenge. Wolfers sieht den Grund für scharfe innere Selbstkritik in gesellschaftlich bedingten, zu hohen Anforderungen an die eigene Person. Dem „Damoklesschwert, anderen nicht zu genügen“ und dem „irrsinnigen Selbstoptimierungsdruck, der in unserer Gesellschaft herrscht“, will sie die Liebe zu sich selbst entgegensetzen. Erst ein Raum der Geborgenheit und des Schutzes ermögliche Entfaltung. Sie rät, hin und wieder zu hinterfragen, aus welcher Intention heraus man bestimmte Dinge mache. Handeln wir rein zweckorientiert mit dem Ziel zu entsprechen und zu funktionieren oder erfüllen wir Aufgaben mit Hingabe und Überzeugung im Sinne eines „beherzten Lebens“? Die Autorin sieht die Freundschaft mit sich selbst als Persönlichkeitsbildung, als Weg zur Selbstachtung, aber auch als spirituelle Erfahrung. In seinen inneren Räumen solle man nicht nur Tourist sein, sondern diese wirklich mit Leben füllen und bewohnen.

 CK, Juli 2018