Raumerfahrung und (Cyber-)Space

Wie können Räume genutzt werden, um dem natürlichen Bewegungsdrang des Menschen am ehesten zu entsprechen und somit Entwicklungs- und Lernprozesse zu fördern? Und welche Räume erweisen sich als unterstützend, wenn es darum geht, psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche während einer Übergangsphase in einen neuen Lebensabschnitt zu begleiten? Diesen Fragen widmeten sich Dieter Breithecker und Leonhard Thun-Hohenstein am vierten Tag der Internationalen Pädagogischen Werktagung.

„Sitzen ist das neue Rauchen“, führt der Gesundheits- und Bewegungswissenschafter Dieter Breithecker dem Publikum eindringlich vor Augen, in welch gefährlichem Widerspruch das Dauersitzen in Schule und Beruf zur biologischen Beschaffenheit des menschlichen Körpers steht. Unsere Gesellschaft unterdrücke das natürliche und entwicklungsgeschichtlich bedingte Bedürfnis nach Bewegung, was besonders im Kinder- und Jugendalter verheerende Auswirkungen auf weichenstellende Reifungsprozesse hat. Ihre intrinsische Motivation sich zu bewegen werde Kindern geradezu „austrainiert“. Neurokognitive Erkrankungen nehmen zu und Breithecker sieht einen Grund dafür in unserer Unfähigkeit, körperliche Aktivität in den Alltag einzubauen. Ein gesunder Körper sei die Grundlage für einen gesunden Geist und die Voraussetzung, um mit hoher Lebensqualität altern zu können. Breithecker bezieht sich dabei nicht auf „organisierte Bewegung“ in Form von Sport, sondern auf alltägliche körperliche und mentale Herausforderungen, mit denen Körper und Geist konfrontiert werden: „Wenn die Bedingungen es einfordern, bleiben körperliche Funktionen erhalten und verkümmern nicht.“ Im pädagogischen Kontext sollte Kindern kein stundenlanges Stillsitzen abverlangt werden. Kinder sollten so viel Zeit wie möglich in der Natur verbringen, Dinge „be-greifen“, balancieren, ihre Sinne schärfen … Nur so könne das sensible Zusammenspiel aus sensorischer, muskulärer und neurologischer Entwicklung gewährleistet bleiben. Aufgabe der Erwachsenen sei es, entsprechende Angebote zur Verfügung zu stellen bzw. zuzulassen, dass Kinder ihre Welt mit einem gewissen Risiko erforschen: „Es darf nicht alles ‚übersichert‘ sein, der Umgang mit Risiko ist ein Grundrecht!“

Leonhard Thun-Hohenstein weiß als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie um die Bedeutung von Räumen für psychisch kranke Kinder und Jugendliche. Die im Bau befindliche neue Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Salzburg soll den passenden Rahmen bilden, um Kinder bestmöglich zu behandeln und ihnen den Aufenthalt dort zu erleichtern. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen verlassen ihr gewohntes Umfeld, ordnen ihr Leben unter Anleitung neu und gliedern sich dann wieder in den Alltag ein. Anforderungen an die Gestaltung einer Klinik seien daher sowohl eine möglichst alltagsnahe Lebensqualität als auch die Erfüllung therapeutischer Erfordernisse. Der Neubau in Salzburg soll einem Dorf nachempfunden werden. Photovoltaikanlagen, ein begrüntes Dach, atmungsaktive Lehmwände und ein Infrarotofen tragen dem Bedürfnis nach Natur und Nachhaltigkeit Rechnung. Licht und Bewegungsangebote spielen ebenfalls eine wichtige Rolle in der Raumgestaltung. In erster Linie sollten Räume einer Kinder- und Jugendpsychiatrie Orte der Begegnung und des Heilens sein und als solche wahrgenommen werden. In Begegnungsräumen können Gespräche und Beziehungen aufgebaut werden. Schutzräume geben den Erkrankten individuelle Rückzugsmöglichkeiten und soziale Räume vermitteln Wertschätzung und Beistand. Auch Kunst spielt eine wesentliche Rolle in der Arbeit mit psychisch kranken Kindern und Jugendlichen. Stiegenhäuser, Gänge und die „Dorfstraße“ bieten sich als Galerie und für Vernissagen an. Schreibwerkstätten, Textilworkshops, Chor und Tanz, Film und Fotografie können Patient/innen helfen, das Gefühl von Ausdrucks- und Hilflosigkeit durch einen Schaffensprozess zu überwinden.

 CK, Juli 2018